In den letzten Wochen beschäftigt mich die Art und Weise, wie verschiedene evangelikal konnotierte Beiträge über Dekonstruktion nachdenken. Zuletzt war das in der neuen Staffel „Furcht und Zittern“ des Podcastes Glaube & Gesellschaft der Fall. Ich meine hier zu beobachten, dass unter dem Strich übrig bleibt, dass man den zweifelnden Postevangelikalen Räume zum Fragenstellen eröffnen, ihnen zuhören und sie begleiten müsse. Darüber hinaus könnte die evangelikale Bewegung eine Prise Selbstkritik vertragen, manches sei halt auch eng. Extreme müsse man vermeiden. Der Begriff „evangelikal“ wird dabei als ein gesundes Mittelmaß verstanden, das bereits extreme Glaubenspositionen überwunden habe. Problematisch sind also immer nur die Anderen.
Was mich an diesem Diskurs über Dekonstruktion nachdenklich macht, ist die Frage des Framings. In besagtem Podcast wird beispielsweise das Bild von Bibliothekar:innen verwendet. Glaubende sollten in der Kirche Literaturhinweise bekommen, weniger fertige Antworten. Damit kann ich viel anfangen. Für mich würde dieses Bild aber nur mit einem pluralistischen und konstruktivistischen Wahrheitsbegriff funktionieren, der eine große Weite an Schlüssen zulässt, zu denen die Glaubenden in ihrer Entwicklung gelangen können. Genau diese Weite ist aus meiner Sicht jedoch gerade nicht typisch evangelikal.
Die vermeintliche Offenheit, sich für Fragen zu öffnen, ist aus meiner Sicht meist damit verbunden, dass kirchliche Leiterschaft letztlich eine stärkere Machtposition inne hat und dadurch inhaltlich bestimmt, zu welchen „Antworten“ der Prozess des Zweifelns führen darf. Begleitung ist daher vor allem ein Hinführen zu dem, was man als „historisches Christentum“, als „Nicht-liberal“ oder eben „evangelikal“ benennt. „Zweifel“ sind in diesem Verständnis immer ein Abweichen von einer bereits vorhandenen Wahrheit. Diese Wahrheit ist im Christentum bekannt, muss vielleicht besser verstanden oder tiefer entdeckt werden, sie ist vielleicht auch personal gedacht („Die Wahrheit ist eine Person, zu der wir eine Beziehung haben können“), sie wird aber schlussendlich im Christentum verortet.
Das, was beispielsweise im Dunstkreis von @freikirchen.ausstieg oder @glaubensweite unter Dekonstruktion verstanden wird, ist nach meinem Erleben etwas grundlegend anderes. Ich bin sehr froh darüber, dass mit dem Begriff „Dekonstruktion“ eine Sprache gefunden wurde, die sich dem Framing evangelikaler Apologetik ein Stück entzieht und daher auch von „Glaubenszweifel“ unterscheidbar ist.
Dekonstruktion begreift den christlichen Glauben als Konstrukt: Menschen haben Glaubenssysteme wie den Evangelikalismus entwickelt. Wahrheitsansprüche können daher nicht einfach von einer übergeordneten Autorität abgeleitet werden (Als wäre Dekonstruktion ein „Verbindungsproblem“ beim Download der göttlichen Wahrheiten). Das Begleiten von Menschen, die sich in einem Dekonstruktionsprozess befinden, ist deswegen auch kein Hinführen zu vermeintlichen Wahrheitsquellen. Dekonstruktion ist vielmehr der Versuch, sich der eigenen weltanschaulichen Entwicklung bewusst zu werden, deren Einflüsse zu beschreiben und in der Ausformulierung der eigenen Weltsicht (hier sprechen viele von Rekonstruktion) kognitive Dissonanzen wahrzunehmen oder sogar verarbeiten zu können.
Was meine ich damit? Menschen konstruieren Weltbilder, das behauptet jedenfalls die Entwicklungstheorievon Jean Piaget. Diese Konstrukte (Schemata) werden im Laufe der menschlichen Entwicklung jedoch mit neuen Informationen konfrontiert, die wir in unser Weltbild einsortieren müssen (Adaption), indem wir unser Weltbild anpassen und erweitern. An bestimmten Stellen gelingt dies jedoch nicht, so dass Menschen die neuen Informationen entweder ausblenden (was problematisch ist und „Entwicklungsstörung“ genannt wird) oder in eine Krise des Weltbildes geraten (was herausfordernd, aber notwendig ist). Geschieht das, dann muss ein Weltbild neu konstruiert werden (Akkomodation), so dass die neuen, unpassenden Informationen verarbeitet werden können. Autor:innen wie Brian McLaren haben versucht, Piagets Erkenntnisse für die religiöse Entwicklung anzuwenden, was ich als eine sehr hilfreiche Herangehensweise erachte.
Ich glaube, dass ein verbreiteter Trend in der evangelikalen Apologetik durch den Versuch gekennzeichnet ist, ein evangelikales Weltbild mit großer Kraftanstrengung aufrecht zu erhalten, indem neue Informationen als „Glaubenszweifel“ benannt werden, die innerhalb des evangelikalen Bezugssystems verarbeitet werden müssen. Um es mit Piaget zu sagen: Akkomodation wird vermieden. Dekonstruktion geht anders vor. Hier geht es um die Neuformulierung des weltanschaulichen Rahmens, um neue Schemata. Das Ergebnis darf wirklich neu sein, es darf vorläufig sein und muss nicht den Logiken des evangelikalen Weltbildes folgen. Dieser Prozess wird bejaht, als gesund und notwendig verstanden und unter der Prämisse verfolgt, dass Menschen mündig sind und fähig, diesen Prozess zu gestalten. Begleitung im Dekonstruktionsprozess muss immer davon ausgehen, dass die betreffenden Personen selber Expert:innen für ihr eigenes Leben sind und daher von der Haltung ausgehen, dass Begleitung immer ergebnisoffen sein muss.
Mich überzeugt nebenbei auch der postevangelikale Diskurs nicht, da er für meinen Geschmack die Machtfrage nicht konsequent stellt und stattdessen damit beschäftigt ist, das evangelikale Weltbild lediglich etwas zu vergrößern und so beispielsweise LGBTQ-Menschen Platz in evangelikalen Gemeinden zu verschaffen. Das ist ein edles Ansinnen, das für mich jedoch zu kurz greift. Denn diese LGBTQ-Menschen müssten sich dann freilich an alle Regeln halten, die für alle anderen Gemeindemitglieder auch gelten. Der weltanschauliche Bezugsrahmen soll etwas modifiziert, keinesfalls jedoch dekonstruiert werden. In diesem Fall müsste man nämlich völlig neu über Kriterien einer (Sexual-)Ethik nachdenken, möglichweise auch ohne dass sich diese aus der Bibel als „verbindlichem Maßstab für Glauben und Leben“ herleiten ließen. Eine alternative konstruktivistische Sicht würde für mich so funktionieren: Menschen machen sich gemeinsam auf den Weg und suchen gute Ressourcen, die dazu beitragen, dass Leben gelingen kann. Die gewonnen Erkenntnisse müssen sich nicht an der Bibel oder an evangelikalen Mainstreamhaltungen messen, aber man sucht den Dialog. Sinn dieser Art von Christsein wäre für mich nicht die Gewissheit, dass solange ich auf dem Boden der Bibel oder evangelikaler Überzeugungen stehe, ein gutes Leben führen kann, sondern die Hoffnung, dass der dialogische Prozess der Wahrheitsfindung eine starke Ressource sein kann, durch die ich in meiner selbstverantwortlichen Lebensgestaltung besser voran komme.
Chris
14. Februar 2022 @ 10:27
Hallo Jason,
inhaltlich stehe ich deinem Kommentar in vielem sicherlich nah. Und sicherlich, Zweifel und Dekonstruktion sind nicht das gleiche. Aber darin liegt auch ein wenig die Krux. Denn dort, wo Dekonstruktion bewusst betrieben wird, ist sie eben auch mehr als nur ein Event, oder eine Praxis, sondern vielmehr eine Haltung. So lese ich es auch aus deinem Kommentar. Das Problem ist nur, dass man eine solche Haltung am Ende nicht einfordern kann. Vielleicht kann man sich wünschen, dass gerade in Diskursen um Tradition und Glaube eine dekonstruktivistische Sicht mehr Common Sense wäre, aber, seien wir mal ehrlich, in anderen Diskurse, sprechen wir von der Corona Pandemie oder dem Klimawandel, wollen wir das ja auch nicht und berufen uns dann auf Evidenz und Vernunft und sehen die anderen als Querdenker. Gerade (Glaubens-)Gemeinschaften definieren sich eben auch stark über Konstruktion, nicht Dekonstruktion. Sicherlich, Glauben meint nicht wissen, aber doch mindestes Annehmen und ein Festhalten. Vielleicht ist es daher auch gerade die Herausforderung seine eigene Dekonstruktion nicht vom Anderen zu erwarten, sondern vielmehr wieder mehr zu lernen, wie wir denn mit den unterschiedlichen Wahrheiten, meinetwegen auch als Konstruktion oder Dekonstruktion, weiter im Gespräch bleiben können. Statt zu erwarten, dass die Denkungsarten sich angleichen, braucht es doch eher wieder mehr Anerkennung. Geht man da so heran, liegt es auch nahe, dass es am Ende dann doch um die Detailfragen geht. Also auch die moralischen Fragen. Dass man hier auch aus der eigenen Denkungsart zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen kann, zeigt ja beispielsweise auch ein S. Zimmer, der weitgehend ohne Dekonstruktion zu anderen Ergebnissen findet. Also alles in allem – man sollte schon auf schauen, dass man seine eigene Dekonstruktion nicht zu hoch aufhängt. Am Ende geht es ja schon um das Ergebnis, und wie erwähnt, nicht immer hat ein dekonstruktivistisches Vorgehen da wirklich die besseren, stabileren Argumente an der Hand.
Evelyn
27. September 2024 @ 12:56
Hallo!
Ich bin gerade zum ersten Mal auf deinen Podcast und diesen Beitrag gestoßen. Irgendwie frage ich mich nun, was es für dich denn bedeutet Christ zu sein? Christen sind nach dem, wie ich es bisher auffasse Menschen, die an Jesus als den Messias glauben und ihr Leben an ihm, seiner Botschaft (damit AT wie NT) und somit auch Gott ausrichten. Gott zur Ehre.
Was ich bei dir herauslese, ist das Suchen nach einem guten Weg zu leben und mit anderen umzugehen. Das klingt für mich jetzt erstmal nicht nach „Christ“ sondern nach „ein guter Mensch sein wollen“. Es klingt auch nicht nach Jesus nachfolgen in dem, was er vorgelebt hat. Wenn ich die Bibel lese und von dem, was ich über historische Fakten bisher über Jesus weiß, erscheint mir Jesus nicht als bloß guter Lehrer, sondern als jemand der wirklich sagen kann, dass er „die Wahrheit“ ist. Es macht von der Heilsgeschichte her Sinn, dass er Gott ist. Es macht für mich auch Sinn mich an dem zu orientieren, was die frühen Christen glaubten und für das sie bereit waren bis aufs Äußerste verfolgt zu werden.
Ich lese bei dir ein für alles offen Sein heraus aber in Grenzenlosigkeit. Doch der Begriff „Christ“ hat ja im historischen und biblischen Sinne (1. Kor.. 15) durchaus seine Grenzen.
Nehme ich das falsch wahr?