Man kann es nicht studieren. Keine Kirche nennt sich so. Theologische Lexika haben dazu keinen Eintrag. Und dennoch gibt es jede Menge Buzz um die progressive Theologie. Wie kann das sein? Es ist ein Diskurs, ein Begriff, unter dem verschiedene theologische Entwicklungen diskutiert werden. Diese sind teils weit verbreitet und in allen Bereichen der Religion auffindbar. Progressive Theologie lässt sich daher schwer definieren, aber es lassen sich einige Schwerpunkte und Trends aufzeigen:
Glaube entwickelt sich und muss weiterentwickelt werden.
Manche meinen, dass der ursprüngliche Glaube, wie er in der Bibel beschrieben wird, perfekt war und man diesen wiederentdecken und bewahren müsse. Progressive meinen dagegen, dass Glaube sich immer in der jeweiligen Zeit und Kultur neu ausgedrückt hat. Es gab also keinen perfekten Urzustand, sondern eine an den Kontext angepasste Glaubensweise, die für die jeweiligen Menschen relevant war. Glaube entfaltet Relevanz, wenn er weiterentwickelt und im jeweiligen Kontext ausgelebt und sprachfähig wird. Dazu greift man auch auf die reiche und vielfältige Glaubenstradition zurück.
Wahrheit hat Konstruktcharakter
Mein Glaube setzt sich zusammen aus meinem Wissen, meinen Erfahrungen, meiner Erziehung, Predigten und vielem mehr. Vieles daran habe ich mir nicht ausgesucht: Wer waren meine Vorbilder? Was haben meine Eltern mir beigebracht? Welche Art von Glaube wird in meinem Umfeld praktiziert und ermöglicht?
Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ich mit Predigten von Tobias Teichen, Tim Keller und Johannes Hartl aufgewachsen bin, oder denen von Nadia Bolz-Weber, Christina Brudereck und Jo Luehmann. All diese Menschen haben ihren Glauben aber auch nicht selber erfunden, sondern haben von anderen Menschen gelernt. Dem nachzuspüren ist wesentlich.
Nur weil ich die Bibel lesen kann, heißt das nicht, dass mein Glaube objektiv ist. Ich kann meine Subjektivität nicht austricksen. Mein Glaube ist mein Erkenntnisstand. Er hat sich entwickelt, ist erlernt und wurde geprägt.
Auch Gemeinden und Kirchen haben kein absolutes Wissen. Daher sind kritische Fragen wichtig: Was sind gute Erkenntnis-methoden? Wo ist unser Verständnis kulturell gefärbt? Wer hat eigentlich die Macht, Glaubensinhalte zu bestimmen? Wer wird und wurde dabei nicht gehört?
Es geht um Befreiung, Wiederherstellung und Versöhnung.
Progressive glauben, dass Gott dabei ist, diese Welt neu zu machen und dafür Menschen zum Mitmachen beruft. Es geht nicht zuerst um das Ticket in den Himmel, nicht um Weltflucht. Es geht um Weltgestaltung. Viele Progressive betonen dabei die menschliche Handlungsfähigkeit und Verantwortung: „Gott hat keine Hände und Füße außer meinen und deinen“.
Man findet Progressive deswegen auf Demos und bei aktivistischen Aktionen. Sie teilen die Anliegen des intersektionalen Feminismus und setzen sich für LGBTQAI+, Antirassismus, soziale Gerechtigkeit, Mitweltschutz, usw. ein.
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Gott ist Liebe – ohne ein Aber.
Was Progressive über Gott sagen und denken, misst sich an der Liebe Gottes. Damit ist sind Gottes Absichten des universalen Wohlbefindens gemeint. Progressive möchten Ausgrenzung und das wir/die – Denken überwinden.
Unter Progressiven sind daher universalistische Ansätze verbreitet, die hoffnungsvoll sind, dass am Ende alle bei Gott ankommen. Eine Hölle ist oft maximal ein Bild für einen Läuterungsprozess.
Erlösung als Prozess
Gott bringt diese Welt wieder in Ordnung. Dazu schafft Gott neue Möglichkeiten und lockt die ganze Schöpfung in eine bessere Zukunft. (Prozesstheologie). Progressive deuten das Kreuz Jesu jedoch nicht im Sinne eines stellvertretenden Strafleidens. Progressiver Glaube ist nicht blutrünstig.
Progressive orientieren sich an anderen Kreuzestheologien, wie dem solidarischen Ansatz: Am Kreuz zeigt sich Gottes solidarische Feindesliebe, die auch dann nicht aufhört, wenn der Mensch zum Äußersten greift. Diese Liebe ist stärker als der Tod, sie schafft neue Möglichkeiten, wo wir keine mehr sehen.
Es geht bei Progressiven also nicht so sehr um ein Bekehrungserlebnis, das über Himmel und Hölle entscheidet. Es geht um einen ganzheitlichen Transformationsprozess, durch den Menschen immer mehr zu sich selber kommen können.
Heilmittel gegen Fundamentalismus
Durch progressive Theologie haben sich viele Menschen aus dem Fundamentalismus gelösen, diesen verarbeitet und eine neue Art entwickeln können, wie sie nun weiterhin glauben können.
Hauke
22. Juni 2023 @ 12:46
Tjaja. Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt. Im Zweifel bin ich als Mensch doch so krass toll, dass ich mir auch meinen Gott selber basteln kann. Und wem das nicht passt, der verbreitet rechtsradikales Gedankengut.
Nein danke
Paul Bruderer
11. März 2024 @ 10:58
Danke lieber Jason für diese gute Zusammenfassung. Ich nehme an ich darf sie vorlesen in einem Seminar über progressive Theologie? Meine Frage: Ich frinde kein Veröffentlichungsdatum. Darf ich dich darum bitten, mir das zu sagen oder hier zu posten?