Oliver Dürr, Ralf Kunz und Nicolas Matter haben in der aktuellen Folge des Podcast „Furcht und Zittern“ einen Auszug eines meiner letzten Blogartikel aufgegriffen und recht ausführlich besprochen. Das hat mich sehr gefreut, da ich gerade diese crossmedialen Diskussionen als sehr gewinnbringend und anregend wahrnehme. Gerade weil die Runde sich so viel Zeit genommen hat und auf meine Gedanken eingegangen ist, möchte ich noch einmal auf das Gespräch Bezug nehmen und einige Kommentare loswerden.
„Furcht und Zittern“ ist ein Projekt der Universität Fribourg (Schweiz). In der aktuellen Staffel sprechen die Produzierenden über Evangelikalismus, Postevangelikalismus und Glaubensdekonstruktion. Unter anderem waren dort auch Mitglieder von Glaubensweite und dem Netzwerk fundamental.frei zu Gast, mit denen ich ebenfalls unterwegs bin.
Bei aller Wertschätzung, die in dem Podcast allgemein und in dieser speziellen Folge im Besonderen über die Beteiligten rüberkommt, die sich am Diskurs um Dekonstruktion beteiligen, vermisse ich dennoch an manchen Stellen etwas mehr Gründlichkeit. In dieser Folge beispielsweise habe ich den Eindruck, dass mein Blogeintrag aus dem Kontext gerissen und daher sinnentstellt besprochen wurde. Für mich sah es so aus, dass in der Runde lediglich Oliver Dürr den Beitrag komplett gelesen hat, so dass in der Runde Dinge in meinen Text hineingelesen wurden, die da zwar nicht stehen, die man aber grundsätzlich einmal sagen wollte. Auf Nachfrage wurde dieser Eindruck bestätigt und die Produzenten haben mir gesagt, dass ihnen diese Darstellung leid tue. Das finde ich stark und möchte daher an dieser Stelle auch nicht nachtreten. Die inhaltlichen Punkte, die sich aus meiner Sicht anders darstellen, möchte ich dennoch kommentieren. An wesentlichen Punkten trifft die Darstellung im Podcast gerade das nicht, was ich geschrieben habe oder auch darüber hinaus vertrete. Mehr noch: Ich glaube zu beobachten, dass die hier skizzierten Positionen auch in der »Dekonstruktionsbubble« nicht verbreitet sind.
Ralf Kunz stellt fest, dass ich einen postmodernen Dekonstruktionsbegriff verwende. Ich würde dem zustimmen. Ich beziehe mich explizit auf konstruktivistische Ansätze, die ich insbesondere im Geschichtsstudium, im Bereich der systemischen Beratung und in der Germanistik kennengelernt und für mich übernommen habe. Für theologische Diskurse greife ich gerne auf die Definition von Tobias Künkler (2007, S.21) zurück:
„Ein typische Bewegung ́postmodernen Denkens` ist das Dekonstruieren und Reimagieren. Zum Beispiel untersucht man etwas auf seine unausgesprochenen Voraussetzungen oder man führt etwas auf seine historische oder kulturelle Bedingtheit zurück und enttarnt damit das Selbstverständliche und Gewohnte, um sodann Platz zu haben, etwas Neues zu entwerfen. Dabei gilt es, mit viel Kreativität und Vorstellungskraft (Imagination) etwas wirklich Neues entstehen zu lassen. Oft fängt man dabei nicht vollkommen ́von Neuem` an, sondern ́mixt` alte, jedoch sehr unterschiedliche Elemente zu einem Neuen.“
In dem in der Sendung besprochenen Beitrag habe ich mich explizit auf Piaget bezogen, dem man im Weitesten auch dem Konstruktivismus und daher dem Bereich postmoderner Denker:innen zuordnen kann.
Welche Art von Suchbewegung kennzeichnet den Postevangelikalismus?
Ralf Kunz wirft in der Episode dem postmodernen Denken (und wohl auch mir) eine „Position jenseits von allen Positionen“ vor. Diese sei sehr abstrakt und daher nicht so faszinierend. Seine Rückfrage formuliert er schließlich so: „Ist der Postmodernismus der letzte Schrei?“ Dekonstruktion könnte in eine „ewige Suchschlaufe“ führen, die über ständig weiterentwickelte Versionen des Christentums (Christentum 2.0, 3.0, usw.) in einem neuartigen Gnostizismus enden könne. Er fasst zusammen: „Mich interessieren die Leute, die ewig in der suchenden Schlaufe sind, nicht unendlich. Ich halte das eher für langweilig“. Dem stellt er eine Suchbewegung mit einer „Mitte“ gegenüber, eine Suche mit Sehnsucht und Feuer, wo man wisse, dass man mit anderen unterwegs sei.
Ich beginne einmal bei der Faszination. Ist der Postmodernismus und ein christlicher Glaube, der sich an dessen Denkvoraussetzungen orientiert langweilig? Für Ralf Kunz ist dem offenbar so. Aber die Frage kann man ja auch umdrehen: Wer findet denn die traditionelle, die Kirche der Mitte faszinierend? Das wird ja untersucht. Beispielsweise sagt der Theologe Heinzpeter Hempelmann (2016, S.245) dazu Folgendes:
„Die kirchlichen Veranstaltungen, ganz gleich ob Sonntag-Morgen-Gottesdienst, Jugendstunde oder Seniorenkreis, wenden sich nur dem Anspruch nach an alle. Theoretisch werden zwar alle adressiert. Alle können und sollen kommen. De Facto zeigt sich aber, dass die kirchlichen Angebote Milieuveranstaltungen mit einer sehr speziellen soziokulturellen Prägung sind. In einer sich immer mehr ausdifferenzierenden Gesellschaft kann das auch kaum anders sein. Es gelingt nicht mehr, alle mit einem Angebot anzusprechen. Dass das so ist, ist nicht verwerflich, wohl aber der Unwillen, diesen Sachverhalt einzusehen und Konsequenzen daraus zu siehen.“
In meinen Worten: Die meisten Kirchen erreichen Menschen nicht, die jetzt als Post- oder Exevangelikal, als Progressive oder Postmoderne benannt werden. Andere werden erreicht und daher haben solche Kirchen natürlich ihre Legitimation. Für Menschen, die in den Sinus-Milleu-Studien beispielsweise unter die „Zukunftsmilieus“ fallen, gibt es im kirchlichen Kontext einfach kaum relevante Formen von Vergemeinschaftung.
Michael Graham hat diesen Punkt für den Evangelikalismus durchdacht. Er unterscheidet sechs Strömungen innerhalb des Evangelikalismus: Fundamentalisten, Evangelikale, Neoevangelikale, Postevangelikale, Entkirchlichte Christ:innen und Dekonvertierte. Dann unterschiedet er drei Typen von Kirchen (Typ A, B, C), in denen sich die jeweiligen Gruppen eingliedern. Es zeigt sich hier jedoch, dass es für die Postevangelikalen kaum passende Kirchen gibt. Daher würde ich mich für eine „Mixed Ecconomy“ stark machen, also für ein vielfältiges Nebeneinander von Kirchen, unter denen aber auch solche sein sollten, die für postmodern tickende Menschen relevant sind.
Der Anspruch des Christentums ist es, milieuübergreifende Gemeinschaft zu sein, die auch gesellschaftliche Kampflinien überwindet (Galater 3,28). Und natürlich könnte man den Postevangelikalen vorwerfen, sie würden in den nötigen Veränderungsprozessen zu schnell aufgeben. Die andere Seite ist jedoch, dass der Diskurs um Dekonstruktion, so wie ich ihn insbesondere innerhalb der evangelikalen Szene wahrnehme, bislang nur sehr eingeschränkt Hoffnung zulässt, dass das evangelikale Zelt auf absehbare Zeit groß genug für Postevangelikale und Entkirchlichte sein könnte. Ich frage mich, ob eine Vergrößerung des Zeltes überhaupt gewünscht ist, ob sie möglich ist, ist eine ganz andere Frage.
Ralf Kunz spricht über die „ewige Suchschlaufe“ der Postevangelikalen. Ich würde an dieser Stelle festhalten, dass dies eine Außenbeschreibung ist, wie es bereits eine Vielzahl gegeben hat. Es lässt sich nachzeichnen, dass beispielsweise aus dem evangelikalen Bereich der Begriff „Dekonstruktion“ mit dem „Zersetzen des Glaubens“ gleichgesetzt wurde. Glaubensdekonstruktion hat so eine negative Konnotation erhalten. Es gibt auch Versuche, diesen Diskurs von vornherein als „Dekonversionsraum“ (Patrick Todjeras) zu beschreiben: Wer dekonstruiert, der verliert früher oder später seinen Glauben. Man kann die Dinge auch herbeireden.
In meinem Beitrag habe ich bewusst einen anderen Weg gewählt und Dekonstruktion mithilfe der Entwicklungspsychologie Piagets eingeordnet. Auf diese Weise würde Dekonstruktion anders konnotiert werden: Keine Dauerschleife, keine Dekonversion auf Raten, sondern ein natürlicher Entwicklungsprozess: Erwachsenwerden und Reife, auch in Fragen der religiösen Orientierung. Ich würde vorschlagen, dass Forscher:innen untersuchen könnten, was Faktoren sein können, die sich positiv in Veränderungsprozessen von religiösen Orientierung auswirken. Wie kann Dekonstruktion gelingen? Was wäre eine gelingende Dekonstruktion? Dazu gibt es nach meinem Kenntnisstand nahezu keine Forschungen.
Ralf Kunz nennt in der Diskussion jedoch bereits einige Aspekte, die er einer postmodernen Suchschlaufe entgegensetzen würde, eine Glaubensmitte, ein Feuer, bei dem man mit anderen unterwegs ist. Er spricht davon, dass diese Mitte nicht „eisern“ sei, nicht dogmatisch. Vielmehr sei Glaube an sich schon eine Dekonstruktion, die etwas auseinanderlöst und wieder zusammensetzt. Karfreitag sei eine Dekonstruktion der „Weisheit dieser Welt“, ein Moment, das mich einlädt, mich selbst zu dekonstruieren, zu hinterfragen, meine eigenen Zweifel nicht zu verdrängen. Dann formuliert er einen starken Satz, der für mich das Highlight der Sendung bildete:
„Dieser innerste Kern, der mir heilig ist, ist ja keine ideologische Spitze, die ich anderen ins Herz ramme, sondern es führt mich zu mir zurück. Es ist eine Bußbewegung, die mich zurückführt zu anderen Menschen, die mich auf andere Menschen hören lässt. Sonst wäre es etwas, das man abschaffen sollte – lieber destruieren als konstruieren.“
Vielleicht wird an dieser Stelle deutlich, wo die Perspektiven auseinander gehen. Die Art Glaube, die Ralf Kunz hier vorschlägt, wünschen sich viele Post- und Exevangelikale. Wenn ich jedoch die Foren, Chatgruppen und Stammtische besuche, an denen sich Exevangelikale austauschen, dann haben sie eine „eiserne Mitte“ erlebt sind dabei ausgegrenzt und verletzt worden. Viele durften leider nicht mehr am Lagerfeuer sitzen. Es gibt nicht wenige, die würden den Evangelikalismus gerne „abschaffen“ und werten steigende Ausstiegsszahlen als gutes Zeichen. Man ist ernüchtert, was die Entwicklungsmöglichkeiten dieser Bewegung angeht und sucht daher nach anderen Wegen, Glauben zu leben oder ohne Glauben zu leben. Andere haben noch evangelikale Bezüge und leben mit den Spannungen, die das mit sich bringt.
In jedem Fall finde ich die Fragestellung nach der Glaubensmitte sehr hilfreich. Inwiefern diese im Evangelikalismus „eisern“ ist oder selbst schon ein Moment der Dekonstruktion beinhaltet, scheint mir eine wertvolle Perspektive zu sein, um sich dem Phänomen des Postevangelikalismus zu nähern. Ich würde vorschlagen, dass diese Fragestellung jedoch um die Frage erweitert wird, wer diese Mitte festlegen darf. Das ist eine klassische postmoderne Herangehensweise, die nach Machtstrukturen fragt: Für wen ist Platz am Lagerfeuer? Wer gibt dort den Ton an und wer wird ignoriert? Die Kritik aus postevangelikalen und postmodernen Diskursen ist ja vielleicht bekannt: Die evangelikale „Glaubensmitte“ ist letztlich auch nur ein Konstrukt, wurde in Europa von weißen Männern geprägt und bringt daher Diskriminierungen und weitere Probleme mit sich, die durch den Rückgriff auf feministische und postkoloniale, sowie Ansätze der Ökologie, den Genderstudies und der historischen Kritik angegangen werden.
Was das konkret bedeutet, kann man ja beispielsweise bei Timo Plattes Buch „Nicht mehr schweigen“ nachlesen, in dem sich queere Christ:innen über ihre Erfahrungen in evangelikalen Gemeinden äußern. Zugespitzt möchte ich sagen: Vom Lagerfeuer an der Mitte des Glaubens lässt sich einfacher schwärmen, wenn man zu den Privilegierten gehört, die dort gerne gesehen werden. Der Diskurs ist aber bereits weiter. Der Jugendleiter, der wegen seiner liberalen Ansichten des Amtes enthoben wurde, sitzt heute nicht mehr still in der letzten Reihe, sondern präsentiert seine Ansichten auf Instagram einem breiten Publikum. Die Diskurse werden in die sozialen Medien getragen und somit verschaffen sich Post- und Exevangelikale eigene Plattformen und erreichen teilweise breite Massen.
Im Podcast wurde an anderer Stelle (Furcht & Zittern 3) von Scotty Williams behauptet, der Diskurs der Glaubensdekonstruktion sei vor allem ein „weißes“ Phänomen. Ein wichtiger Beitrag, der mit meinem Punkt zusammengesehen werden muss. Die Dominanz von weißen CIS-Männern in dem Dekonstruktionsdiskurs würde ich vor allem für die erste Phase der Emerging Church Bewegung bejahen, meine heute aber mehr Diversität wahrnehmen zu können. Diese Kritik finde ich jedoch wichtig und möchte es unterstreichen: Ich wünsche mir, dass durch den Dekonstruktionsdiskurs mehr Diversität, Repräsentation von Minderheiten und Überwindung von sexistischen oder postkolonialen Diskriminierungsformen angestoßen werden können. Meine Hoffnung ist, dass die teils schrille und laute Kritik am Evangelikalismus – mit dem Begriff der Organisationsentwicklung gesprochen – eine Irritation sein kann, durch die im System „Evangelikalismus“ Dinge anders werden können. Dazu muss die Diversität im Dekonstruktionsdiskurs jedoch ebenfalls erhöht werden.
Wie verhält sich der Postevangelikalismus zur christlichen Tradition?
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Sendung war das Verhältnis der Postevangelikalen zur christlichen Tradition. Nicolas Matter spricht hier von einem postevangelikalen „Anspruch“ den er „runternehmen“ wolle:
„Die Vorstellung, dass man sich aus einer Position neue Schemata aufbauen kann, die selbst nicht schon vorgeprägt ist durch alte Schemata, wo das dann reinfließen würde. Also die Vorstellung, dass man irgendwo steht, abstrakt, und alles einordnen und beurteilen kann, als würde man selbst außerhalb der Geschichte und jeglicher Denkströmungen stehen. Ich glaube, das ist dann doch etwas naiv gedacht, weil man das einfach nicht kann. (…) Unsere Existenz ist davon geprägt, dass wir in Sinnbezügen, Gemeinschaftsbezügen und sozialen Bezügen drinnen sind. Wir sind immer schon geprägt und die Vorstellung, dass wir uns da einfach rausdenken können, um dann selber etwas Neues zu erschaffen, erscheint mir schlicht unmöglich.“
Ich kann dem nur zustimmen. Es gibt keine Möglichkeit, sich aus der eigenen Geschichte und den vielschichtigen Bezügen herauszunehmen. Wir sind kulturelle und geschichtliche Wesen, die keinen neutralen und objektiven Standpunkt einnehmen können. Das ist meiner Meinung nach das 1×1 der postmodernen Denkweise. Im postevangelikalen Diskurs ist die Formulierung verbreitet „Theologie ist Biografie“. Ich stimme Nicolas Matter hier völlig zu, frage mich allerdings, wo er diese Position beobachtet. Wird hier nicht ein Zerrbild des postevangelikalen Diskurses angegangen und ein Pappkamerad abgeschossen? Auch Oliver Dürr formuliert eine ähnliche Kritik:
„Die Frage ist, ob nur ich allein im Vakuum stehe und mir Glaubensfragen stelle, oder ob man als Christenmensch nicht schon selbst in einer Tradition steht und stehen darf. Also die Vorstellung, dass nicht alle Glaubensfragen und Glaubenszweifel ich allein für mich beantworten muss und es gibt niemanden, der sich diese Fragen jemals gestellt hat. Gibt es vielleicht eine Möglichkeit, auf Erfahrungsschätze, Weisheit und Wissensbestände zurückzugreifen? Menschen stellen sich solche Fragen und haben solche Zweifel und haben sich da durchgerungen, kann man sich da anvertrauen und sich auf Tradition berufen?“
An dieser Stelle habe ich tatsächlich die Rückfrage, wie die Produzierenden des Podcastes zu dieser Einschätzung gelangen. In meinem Blogbeitrag, von dem in der Sendung ein Ausschnitt besprochen wurde, greife ich den Aspekt der Gemeinschaftlichkeit auf und zeichne ein Bild, das gerade nicht rein individualistisch gedacht ist:
„Eine alternative konstruktivistische Sicht würde für mich so funktionieren: Menschen machen sich gemeinsam auf den Weg und suchen gute Ressourcen, die dazu beitragen, dass Leben gelingen kann. Die gewonnen Erkenntnisse müssen sich nicht an der Bibel oder an evangelikalen Mainstreamhaltungen messen, aber man sucht den Dialog. Sinn dieser Art von Christsein wäre für mich nicht die Gewissheit, dass solange ich auf dem Boden der Bibel oder evangelikaler Überzeugungen stehe, ein gutes Leben führen kann, sondern die Hoffnung, dass der dialogische Prozess der Wahrheitsfindung eine starke Ressource sein kann, durch die ich in meiner selbstverantwortlichen Lebensgestaltung besser vorankomme.“
Ich gehe selbstverständlich davon aus, dass der Rückgriff auf die christliche Tradition wichtig, hilfreich und gewinnbringend ist. Viele der Menschen, die zum postevangelikalen Diskurs beitragen, haben theologische Ausbildungen und sind durchaus in der Lage, dogmengeschichtliche und kirchengeschichtliche Bezüge herzustellen. Die Diskurslinie verläuft für mein Dafürhalten an einer ganz anderen Stelle. Um es mit dem Buchtitel von Siggi Zimmer zu sagen: „Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?“. Ich nehme den postevangelikalen Diskurs auch als Auswirkung einer Krise der evangelikalen Gatekeeper war. Wo der Evangelikalismus sich ursprünglich gegen „liberale“ Theologien gewandt hat und sich daher lange Zeit als Gegenbewegung zu einer akademischen Theologie der Universitäten verstand, bricht heutzutage der Damm. Evangelikale Ausbildungsstätten nähern sich dem wissenschaftlichen Diskurs an und auch durch Projekte wie Worthaus finden Ansätze der Bibelwissenschaft Eingang in evangelikale Kreise. Die Gatekeeper werden umgangen.
Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich vor gut 10 Jahren als Student an einer evangelikalen Ausbildungsstätte eine Hausarbeit wiederholen musste, weil dort „liberale“ Autoren wie N.T. Wright zitiert wurden. Man hat mir damals sehr deutlich gemacht, dass man mich nicht in den Pastorendienst schicken würde, wenn ich theologisch derartige Wege einschlagen würde. Heute zählt N.T. Wright zum Kanon an dieser Einrichtung und hat dort auch schon Vorlesungen gehalten. Dinge ändern sich.
Postevangelikale schätzen Tradition. Gerade hier stehen sie aber in einem Spannungsfeld, da Tradition kein neutraler Begriff ist. Auch hier ließe sich konstruktivistisch fragen: Wer darf bestimmen, was als Tradition gelten darf und was als Häresie. Postevangelikale bewegen sich auch in dieser Trennlinie.
Ralf Kunz bringt derweil eine schöne Unterscheidung ins Gespräch, die ich sehr gut nachvollziehen kann:
„Wer Musik macht kommt nicht umhin, sich in einer musikalischen Welt zu bewegen, die schon da ist. Es gibt keine Neuerfindung der Musik. Auch wenn man sich absetzt, ist man immer noch in einem Verhältnis zur Tonalität. Und das gilt auch für die Tradition. Man unterscheidet zwischen Tradition (das ist eine Repetition) und traditional (ein freies Interpretieren und Deuten). So sehe ich es auch mit dem Glauben, der Glaube ist die Improvisation mit den Themen, die schon da sind. Das ist auch ein Spiel mit den Formen.“
Das beschreibt ganz gut, wie ich postevangelikale Spiritualität wahrnehme: Spielerisch, improvisierend, mit Blick über den Tellerrand und dem Wunsch, verschiedene christliche Traditionsstränge zu verbinden. Ein Beispiel dafür wäre Brian McLarens Buch „Generous Orthodoxy“. Man kann aber auch die Kritiker:innen des Postevangelikalismus konsultieren und wird schnell merken, dass die breite Wahrnehmung der christlichen Tradition als Gefahr gesehen wird, wenn dadurch nämlich der Wahrheitsanspruch einzelner Denominationen relativiert wird.
Für viele Kritiker:innen geht die breite Wahrnehmung anderer Glaubenstraditonen ja sogar zu weit. Nicht nur, dass man sich damit beschäftigt, inwiefern heutige Fragen schon von früheren christlichen Denker:innen durchrungen wurden, man greift hier auch auf Denker:innen anderern Religionen und Philosophien zurück. Der Vorwurf des Synkretismus ist im Diskurs des Postevangelikalismus sehr prominent – ich erinnere nur an den bekannten exevangelikalen Musiker Micheal Gungor, der sich viel mit dem Buddhismus auseinandersetzt und vieles davon als bereichernd übernommen hat und heute von so mancher apologetischen Stimme verrissen wird. „Wahrheit ist wahr, egal wo sie gefunden wird“ – das ist für viele Postevangelikale nachvollziehbar, für viele Evangelikale geht das in die falsche Richtung.
Wie individualistisch ist die postevangelikale Szene?
Ein weiterer Kritikpunkt der Sendung wurde von Nicolas Matter formuliert. Er sieht in postevangelikalen Kreisen die Gefahr eines „Pochens auf Autonomie“. Hier nimmt er auf meine Behauptung Bezug, jede:r sei Expert:in für das eigene Leben:
„In der christlichen Tradition ist die Vorstellung da, dass es Leute gibt, die vor einem da sind, die entweder schon länger zurück sind, deren Schriften man liest, Leute, die Mentoren sind, die schon länger in diesem Glauben sind, die dann wirklich Experten sind für ein gutes Leben. Die eine Perspektive wäre dann, dass man dort hingeht und sich inspirieren lassen kann und sich was sagen lassen kann und die Gefahr wäre eben auf der anderen Seite, wenn man denkt, man wäre Experte für sein eigenes Leben, dass man auch nie irgendwo hinkommt, was man nicht selber schon gesehen und gedacht hat. Man beschränkt sich damit auch bis zu einem gewissen Grad.“
In den 2000er Jahren hat es in der freikirchlichen Szene ein breites Interesse am Thema Mentoring gegeben. Evangelikale haben in „Zweierschaften“ gebetet und die Bibel gelesen, sich mit „Rechenschaftspartner:innen“ ihre Sünden bekannt und „ins Leben sprechen“ lassen. Ich nehme wahr, dass die Postevangelikalen diese Formen der religiösen Prägung erlebt haben – noch mehr, viele von ihnen waren in der Rolle von Mentor:innen und überlegen sich heute, was sie da oft angerichtet haben. Dekonstruierende Christ:innen sind gerade nicht nur die „Newbees“ im Glauben. Es sind doch gerade die gestandenen Pastor:innen, Theolog:innen, Worshipleiter:innen, usw. – diejenigen, die für andere Mentoren waren. Mentoring wird im postevangelikalen Diskurs stark kritisiert und das nicht aus Unwissenheit, sondern aufgrund schlechter Erfahrungen.
Man kann eine Menge kaputt machen, wenn Beratungsprozesse unprofessionell geführt werden. Nur weil man ein Theologiestudium absolviert hat (und viele christliche „Mentor:innen“ haben ja nicht einmal das) heißt das nicht, dass man Expert:in für ein gutes Leben sein kann. Diese aus meiner Sicht falsche Alternative zwischen dem Lernen bei christlichen Expert:innen oder einem sich wesentlicher Ressourcen beraubendem autonomen Individualismus verkennt darüber hinaus die Haltung, mit der heute professionelle Beratungsprozesse geführt werden.
Der Satz „Du bist Expert:in deines Lebens“ wird vielfach im Kontext der systemischen Beratung verwendet. Ich habe die dahinterstehende Haltung auch bei Carl Rogers, dem Begründer der klientenzentrierten Gesprächstherapie, wahrgenommen und schätzen gelernt. Dieser Satz zielt zunächst einmal darauf ab, die Rollen von Klient:in und Berater:in zu klären. Im Beratungsprozess arbeiten Klient:in und Berater:in zusammen, jedoch übernimmt der/die Berater:in keine Verantwortung für Entscheidungen und Konsequenzen des Handelns der/des Klient:in. Der/die Berater:in ist eben nicht Expert:in für das Leben der anderen.
Im freikirchlichen Bereich habe ich es vielfach anders erlebt. Dort werden schnell „5 Prinzipien“ für jeden wichtigen Lebensbereich formuliert und das Versprechen gepredigt, dass wer sich an diese „biblischen“ Prinzipien hält, ein gutes Leben führen wird. Moderne Beratungsansätze gehen davon aus, dass Berater:innen gerade nicht wissen, was für die Klient:innen das Richtige ist. Sie können jedoch dabei helfen, damit Klient:innen das selber für sich herausfinden können. Der postevangelikale Diskurs ist von der Enttäuschung über geistliche Gurus geprägt, deren Lebensweisheiten nicht weit getragen haben und die offenbar in ihrem eigenen Leben ebenfalls mit einem vermeintlichen Expert:innenwissen gescheitert sind.
Expert:in für das eigene Leben zu sein heißt übrigens nicht, dass man sich nicht von anderen inspirieren lässt, sich Hilfe sucht oder um die eigene Begrenztheit weiß und sich lediglich „auf die eigene Weisheit“ bezieht. In jedem anderen Bereich zeichnen sich Expert:innen ja auch nicht dadurch aus, dass sie nur das wissen, was sie sich selber zusammenreimen. Expert:innen sind in diesem Sinne nicht autonom, vielmehr setzen sie viel Zeit und Energie in Studium, Recherche, Forschung und Fachdiskurs. Man wird nicht Expert:in durch das eigene Bauchgefühl.
Für viele Postevangelikale war das Lösen aus evangelikalen Strukturen verbunden mit einer Professionalisierung in anderen Bereichen. Es ist auffällig, wie viele Postevangelikale sich im Bereich Beratung, Psychologie oder Coaching professionalisieren. Diesen Trend nehme ich sowohl in den USA wie auch im deutschsprachigen Raum wahr. Darüber hinaus nehme ich eine hohe Wertschätzung von professioneller Psychotherapie wahr (sehr bewusst in Abgrenzung zu christlicher „Seelsorge“ oder „Mentoring“). Das sind alles gute Gründe, warum Nicolas Matters Kritik am Postevangelikalismus aus meiner Sicht nicht fundiert ist.
Aber die Runde und insbesondere Nicolas Matter sprechen ja etwas an, das sich beobachten lässt. Viele Evangelikale, die anfangen ihren Glauben zu dekonstruieren, erleben in ihren Gemeinden keinen sicheren Raum dafür. Die sozialen Medien sind voll von Geschichten, in denen von schweren Verletzungen erzählt wird, weil Verantwortliche übergriffig, bevormundend, hart und belehrend aufgetreten sind, wenn jemand kirchliche Räume oder seelsorgerliche Settings für kritische Anfragen nutzte. Wenn kein sicherer Raum für Fragen und Findungsprozesse geschaffen wird, dann suchen sich Menschen andere Orte oder machen diese Fragen mit sich selber aus. Das sagt aber weniger etwas über diese Menschen aus („pochen auf Autonomie“), als mehr über die Kultur in vielen evangelikalen Gemeinden und die Haltung, die viele Verantwortliche an den Tag legen.